Unfallversicherung: Auch unreifes Verhalten ist versichert
Ein Lehrbetrieb schickt seine Auszubildenden zu einem Einführungsseminar in eine Jugendherberge. Abends feiern die jungen Leute. Ein Teilnehmer klettert danach aufs Dach, fällt – und verletzt sich schwer. Ein Dienstunfall?
Ein siebzehnjähriger Auszubildender steigt nach dem Konsum von zwei Vodka-Orange auf das Dach der Jugendherberge. Er will von dort aus ins Mädchenzimmer gelangen – und stürzt ab. Was zunächst nach einer romantischen Komödie klingt, schildert in Wahrheit den Sachverhalt eines Rechtsstreits, den das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg zu entscheiden hatte (Az. L 9 U 180/20). Denn der Sturz des Auszubildenden aus acht Meter Höhe hatte dramatische Folgen: Er erlitt mehrere Frakturen, darunter einen Bruch des Beckens, der Wirbelsäule sowie des linken Arms. Selbst nach mehreren Operationen leidet er nun dauerhaft unter massiven Bewegungseinschränkung des gesamten linken Armes.
Kein Fall für die gesetzliche Unfallversicherung?
Nachdem die Berufsgenossenschaft (BG) den Sturz während des Einführungsseminars zunächst als Arbeitsunfall anerkannt und deshalb einen Vorschuss gezahlt hatte, verlangte sie später das Geld zurück. Das Argument: Der Mann habe keinen Arbeitsunfall erlitten, da der Versuch, ins benachbarte Mädchenzimmer zu klettern in keinem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit als Auszubildender stehe. Hinzu komme, dass der Verunglückte zum Zeitpunkt des Unfalles alkoholisiert gewesen sei. Entsprechend habe er keinen Anspruch auf Zahlungen der Berufsgenossenschaft.
Gegen diese Ablehnung zog der junge Mann vor Gericht – und gewann sowohl in erster als auch in zweiter Instanz. Wie schon das Sozialgericht entschied auch das LSG, dass die Berufsgenossenschaft verpflichtet sei, den Unfall als Arbeitsunfall anzuerkennen.
Junge Menschen dürfen unvernünftig sein
Das Unfallopfer sei als Teilnehmer der Ausbildungsmaßnahme während des Einführungsseminars unfallversichert gewesen – und zwar bei allen Verrichtungen im inneren Zusammenhang mit der Ausbildung. Selbst das Klettern über das Dach sei vom Unfallschutz erfasst, denn der innere Zusammenhang mit der Ausbildung werde nicht dadurch aufgehoben, dass sich der Verunglückte in hohem Maße unvernünftig und gefahrbringend verhalten habe.
Sein Sturz sei vielmehr Folge seiner altersbedingten Unreife und eines für Jugendliche seines Alters typischen gruppendynamischen Prozesses gewesen. Auch der Alkoholkonsum ändere nichts an dieser Beurteilung. Zwar sei dieser nach der Hausordnung der Jugendherberge verboten gewesen. Das aber lasse den Versicherungsschutz nicht entfallen, zumal der Mann nur leicht angetrunken war und keine besonderen Auswirkungen der Alkoholisierung habe erkennen lassen.
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